Die Neufassung der europäischen Regulatorik zu Medizinprodukten in Form der MDR ergab eine Dynamisierung, welches bestehende Medizinprodukte sowie Neuprodukte gleichermaßen betrifft.
Die zentralen Bausteine „Plan zur Klinischen Bewertung & Klinische Bewertung“ sind nicht als statische Dokumente zu betrachten, sondern vielmehr als ein dynamischer und fortlaufender Prozess. Dieser Prozess umfasst die systematische und kontinuierliche Sammlung, Analyse und Bewertung klinischer Daten, um die Sicherheit und Leistungsfähigkeit eines Medizinprodukts über dessen gesamten Lebenszyklus hinweg zu gewährleisten.
Der Sinn dieses Prozesses liegt nicht nur in der reinen Erfüllung der regulatorischen Anforderungen, sondern auch in der Definition einer klaren „Roadmap zur CE“. Hier entscheidet sich der Aufwand zur Erlangung der notwendigen klinischen Evidenz:
- Welche Zweckbestimmung definiert das Medizinprodukt?
- Welche klinisch relevanten „Claims“ wurden formuliert?
- Welcher klinische Nutzen soll erreicht werden?
- Wie drückt sich das in quantifizierbaren, konkreten Leistungs- und Sicherheitsparametern aus?
- Wie wird die notwendige Evidenz zu diesen Parametern aufgebaut?
Diese Fragen – gestellt im Plan zur klinischen Bewertung – stellen besonders für innovative Medizinprodukte die Weichen. Die Umsetzung des Plans mündet in der klinischen Bewertung und ist eher ein Netzwerk als eine geradlinige Straße. Die obengenannten Fragen müssen schon entwicklungsbegleitend gestellt werden. Daraus leiten sich die Wegpunkte, Aufwände und Ziele ab.
„Sugar Sentry“ – Ein hypothetisches Bespiel eines Klasse IIa-Produkts
Ein hypothetisches Beispiel ist der „SugarSentry IIa“, eine App, die den Barcode von Lebensmitteln scannt und die Menge an Zucker ausgibt, die mit dem Konsum dieses Lebensmittels aufgenommen wird. Der Hersteller formuliert die Zweckbestimmung so, dass diese mit der Definition eines Medizinprodukts übereinstimmt und die App als Klasse IIa Produkt, der MDR-Klassifizierungsregel 11 folgend, eingruppiert wird. Der hypothetische „SugarSentry IIa“ überwacht die Menge des aufgenommenen Zuckers. Die vorgesehene Nutzer:innengruppe umfasst Erwachsene sowie Jugendliche, die ihren Zuckerkonsum reduzieren möchten, um so gesundheitliche Risiken zu vermeiden.
So weit, so gut, aber jetzt gilt es, dieses Medizinprodukt durch die Konformitätsbewertung zu führen und die Sicherheit und Leistung darzustellen. Die Leistungs- und Sicherheitsparameter dieser App lassen sich gut auf technische Aspekte reduzieren, da die Nutzung der App im Sinne der Zweckbestimmung in erster Instanz keine Wechselwirkung mit den Anwender:innen erfordert.
Die Leistung („performance“) bezeichnet, gemäß MDR Artikel 2(22), die Fähigkeit eines Produkts, seine vom Hersteller angegebene Zweckbestimmung zu erfüllen. Die direkte Leistung und Sicherheit des „SugarSentry IIa“ definieren sich durch die Fähigkeit den Barcode zu scannen und den Zuckergehalt sowie die aufgenommene Zuckermenge korrekt darzustellen. Die Beweisführung dieser „Claims“ dürfte auf rein technischem Weg durch entsprechende Tests, Normenabgleich und Softwareverifizierung und -validierung erreichbar sein.
Die Notwendigkeit klinischer Daten über Leistung und Sicherheit
Das in der weiteren Definition der Zweckbestimmung formulierte Ziel der Reduzierung Zuckerkonsums kann an dieser Stelle nur mittels klinischer Daten von Proband:innen nachgewiesen werden. Die Quelle dieser Daten ist vielfältig. Bei Klasse IIa-Produkten macht die MDR hier zunächst keine großen Einschränkungen.
Möglichkeit 1:
Gibt es im eigenen Unternehmen Daten zur Zuckerreduktion mittels einer Vorgänger-App oder gibt es veröffentlichte Daten zur Zuckerreduktion mittels einer Konkurrenz-App, können diese Daten zur Beweisführung herangezogen werden. Voraussetzung ist allerdings das die Vorgänger-App bzw. die Konkurrenz-App in technischer, biologischer und klinischer Hinsicht zum „SugarSentry IIa“ äquivalent ist. Wird dieser Weg angestrebt, ist schon bei der Definition und der Entwicklung der App darauf zu achten (z.B. gleiche Anwendungsbedingung, gleiche Zielgruppe, gleiche technische Umsetzung, etc.).
Möglichkeit 2:
Wir gehen davon aus, dass die App einen wirklichen Innovationscharakter hat und es keine vergleichbaren Konkurrenzsysteme gibt. Hier müssen eigene Daten im Rahmen einer „klinischen Prüfung“ erhoben werden. Die Definition der „klinischen Prüfung“ gemäß MDR §2(45) besagt zunächst einmal nur, dass dies eine systematische Untersuchung darstellt, bei der ein oder mehrere menschliche Prüfungsteilnehmer:innen einbezogen sind und die zwecks Bewertung der Sicherheit oder Leistung eines Produkts durchgeführt wird. Ob diese klinische Prüfung nur eine Behandlungsgruppe oder auch eine Kontrollgruppe beinhaltet, welche Art von Teilnehmer:innen eingeschlossen bzw. ausgeschlossen wird und wo und unter welchen Umständen diese Prüfung stattfindet, ergibt sich aus dem Nutzungskontext, der Zweckbestimmung, der Zielgruppe und dem Risikoprofil, etc. des zu prüfenden Medizinprodukt.
Auch hier befinden sich der Plan zur Klinischen Bewertung und die Klinische Bewertung, die die notwendige mit der vorhandenen Evidenz, dem Nutzungskontext und dem Risikoprofil des Produkts in Einklang klingt, im Zentrum des Geschehens – und liegen einmal mehr in der Deutungshoheit der Entwickler. Der Prozess der Klinischen Bewertung erfasst Änderungen, Anpassungen und Entwicklungen der Spezifikationen des Produkts und identifiziert Lücken in der Evidenz und die Strategien, die nötig sind diese zu schließen. So würde z.B. eine Beschränkung der Zielgruppe auf Erwachsene das Genehmigungs- und Durchführungsverfahren einer klinischen Prüfung vereinfachen, da der Einbezug von jugendlichen Probanden höhere ethische und organisatorische Hürden bereitstellt. Auf der anderen Seite fallen dadurch aber auch mögliche Nutzer:innen im Rahmen der Vermarktung weg, da die CE-Zertifizierung dann die Nutzung durch Jugendliche erst einmal ausschließt.
Die Zweckbestimmung – Stichwort Zuckerreduktion – gibt den groben Rahmen einer möglichen zweiarmigen klinischen Prüfung vor. Behandlungsgruppe mit App und Kontrollgruppe ohne App, die dann jeweils nach einer gewissen Zeit zum Zuckerkonsum befragt (mit Unsicherheitspotential), per Blutzucker direkt (invasiv; macht die Prüfung komplexer) oder per Surrogatmarker (z.B. Gewichtsverlust) indirekt getestet werden. Daraus ergibt sich die quantifizierbare klinische Leistung der Zuckerreduktion.
Wie nun den klinischen Nutzen von „Sugar Sentry“ nachweisen?
Beachte die Definition des Begriffs der „klinischen Leistung“ gemäß MDR §2 (52):
„… die Fähigkeit eines Produkts, die sich aufgrund seiner technischen oder funktionalen — einschließlich diagnostischen — Merkmale aus allen mittelbaren oder unmittelbaren medizinischen Auswirkungen ergibt, seine vom Hersteller angegebene Zweckbestimmung zu erfüllen, sodass bei bestimmungsgemäßer Verwendung nach Angabe des Herstellers ein klinischer Nutzen für Patienten erreicht wird“.
Der klinische Nutzen wäre an dieser Stelle schon deutlich schwieriger darzustellen. Man bräuchte schon eine Langzeitstudie unter sehr kontrollierten Bedingungen, um direkt nachzuweisen, dass der Gebrauch der „SugarSentry IIa App“ dazu führen kann, auf lange Sicht das Risiko an Diabetes, Übergewicht oder Karies (die auch, aber nicht nur von übermäßigen Zuckerkonsum herrühren) zu erkranken, zu verringern.
Ebenso ist ein mehrstufiges Konzept vorstellbar. Die Überprüfung der direkten (klinischen) Leistung im Rahmen der geschilderten, kontrollierten Prüfung und der daraus abgeleitete klinische Nutzen im Rahmen eines nachfolgend breiter angelegten Registers (evtl. auch in der Nachmarktbeobachtung). Der tatsächliche klinische Nutzen (hier Prävention von durch zu hohen Zuckerkonsum mitverursachten Erkrankungen) ist oftmals deutlich schwieriger zu erfassen als die direkte Leistung. Dies erfordert auch oft eine andere Art von Studie wie z.B. das oben angesprochene Nachmarktregister.
Allerdings kann der klinische Nutzen auch durch den sogenannten Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft abgeleitet werden (auf Basis der aktuellen klinisch-medizinischen Literatur und veröffentlichten Leitlinien/Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften). So ist es fast schon medizinisches Allgemeinwissen, dass eine Verringerung des Zuckerkonsums auf individueller Basis und im Rahmen der öffentlichen Gesundheit präventive und gesundheitsfördernde Effekte hat.
Es ist sicher angemessen, dass ein Hersteller bei erfolgreicher Nachweisführung der Zweckbestimmung und klinischen Leistung sich auf den allgemeinen, seriösen medizinischen Kenntnisstand zurückziehen kann. Dieser muss dann im Rahmen der klinischen Bewertung adäquat dargestellt werden (und durch regelmäßige Revisionen, wie durch die MDR gefordert, in der Vor- und Nachmarktphase auch nachgehalten werden).
Nachweise für Marketing-Claims
Jenseits der Begriffe Leistung, klinische Leistung und klinischer Nutzen kommen nun noch die sogenannten klinisch relevanten „Claims“ ins Spiel. Diese werden oftmals durch Marketing getrieben, sind aber, falls vorhanden, durchaus Gegenstand der klinischen Bewertung/Nachweisführung. Ein „Claim“ wie z.B. „…der SugarSentry IIa halbiert den Zuckerkonsum schon innerhalb der ersten Woche der Anwendung…“ will auch bewiesen sein.
Hierüber hat der Hersteller wiederum die Definitionsmacht und kann diese mit der vorhandene Datenlage abgleichen, präzisieren oder auch verwerfen.
Am Ende fasst der Plan zur Klinischen Bewertung diese Szenarien dynamisch in eine konsistente Strategie, welche in die Evidenzdarstellung der Klinischen Bewertung und damit in die CE-Konformität mündet.
Als Tübinger Dienstleistungsunternehmen unterstützt die novineon CRO GmbH nationale und internationale Hersteller von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika bei klinischen und regulatorischen Aufgaben rund um die Konformitätsbewertung. novineon CRO begleitet deren Produkte durch sämtliche Phasen des CE-Lebenszyklus – von der Gebrauchstauglichkeit, durch die klinische Prüfung hin zur klinischen Bewertung und darüber hinaus zur PMCF.