Nicht jedes Produkt, das ursprünglich als Medizinprodukt angedacht war, ist auch tatsächlich eins: Es kommt auf die Zweckbestimmung an! Das hat das Startup tinus im 4C Accelerator gelernt. Da ihr Produkt keinen medizinischen Zweck verfolgt, nicht invasiv ist und kein Risiko für die Nutzer:innen birgt, hat das Team ihr Produkt „tinus.one“ nun als Lifestyle-Produkt realisiert. Simon Greschl, Co-Founder und CTO, war mit uns im Gespräch.
Vorweg: Wer steckt hinter tinus und welche Ziele verfolgt euer Startup?
Simon Greschl: Unser Ziel ist es besseren Schlaf für alle zugänglich zu machen. Auf diese Mission sind wir durch den Vater meiner Mitgründerin gekommen. Denn dieser leidet aufgrund von Ohrgeräuschen an Schlafstörungen. Während er zum Einschlafen ein Radio benötigt, hat das wiederum seine Partnerin am Schlafen gehindert. Unsere ersten Recherchen haben ergeben, dass diese Problematik weit verbreitet ist – rund 3 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Einschlafstörungen ausgelöst durch Ohrgeräusche. Wir möchten genau dieser Personengruppe helfen. Daher sind wir unserer Idee – einer Einschlafhilfe, die Klänge nicht durch Luft, sondern durch Flüssigkeit überträgt – nachgegangen. Bereits unsere ersten Prototypen waren erfolgsversprechend und wir haben viel Zuspruch erhalten, sodass wir seit 2020 Vollzeit an unserer Mission für besseren Schlaf arbeiten.
Mittlerweile ist euer erstes Produkt – das Kissen „tinus.one“ – auf dem Markt erhältlich. Welchen Mehrwert bietet es Kund:innen?
SG: tinus.one zeichnet sich vor allem durch drei Besonderheiten aus:
- Das Kissen überträgt eine einzigartigen Soundqualität gleichmäßig auf die gesamte Kissenoberfläche, was bisher bei allen für einen WOW-Effekt gesorgt hat.
Dabei ist es egal, wie die Nutzer:innen auf dem Kissen liegen. Die Schlafposition kann beliebig gewählt werden, ohne dass die Soundqualität beeinflusst wird. - Gleichzeitig bietet das tinus.one vollständige Schallisolation für den Partner im Bett. Nur die Nutzer:in des Kissens kann die Klänge der Musik hören, während der Partner daneben unbeeinträchtigt weiterschlafen kann.
- Zudem erkennt das tinus.one sobald die Nutzer:in im Tiefschlaf ist und schaltet sich automatisch ab. So wird verhindert, dass die Nutzer:in durch die Klänge wieder geweckt wird. Außerdem verfügt tinus.one über eine automatische Start-Pause Funktion. Zum Beispiel kann man nochmal aufstehen und ein Glas Wasser holen und der Podcast wartet auf einen. Ermöglicht wird das durch eingebettete Bewegungssensoren, die den Schlaf der Nutzer:innen lokal auf dem Kissen trackt.
2021 hat euer Startup im ersten Batch des 4C Accelerator teilgenommen. Was habt ihr hieraus für euer Geschäftsmodell mitgenommen?
SG: Für uns war das spannendste die rechtlichen und organisatorischen Herausforderungen der Medizinbranche kennenzulernen. Ich habe zwar Medizintechnik studiert, jedoch lag im Studium der Fokus mehr auf dem Technischen als auf Regulatorischem. Durch den 4C Accelerator habe ich gelernt, wie umfangreich die Zertifizierung eines Medizinprodukts ist und welchen Aufwand sie mit sich bringt. Mit all dem Input haben wir dann die Entscheidung gefällt, unser Produkt zunächst nicht als Medizinprodukt, also ohne medizinischen Zweck, zu realisieren und auf den Markt zu bringen.
Kurz und knapp: Was sind deine drei wichtigsten Take-aways aus dem Accelerator?
SG:
- Umfang und Ausmaß:
Was kommt alles als Gründer:in auf einen zu, was muss ich realistisch einplanen und welches Investment muss ich und mein Team aufnehmen. - Stolpersteine aus der Praxis:
Erfahrungsberichte anderer Gründer:innen haben uns aufgezeigt, welche Stolpersteine auftreten können, selbst wenn man der Theorie nach „richtig“ vorgeht. - Netzwerk:
Im 4C Accelerator konnten wir wahnsinnig wertvolle Kontakte knüpfen, sei es mit den Dozent:innen, anderen Gründer:innen oder dem Team vom MII.
Ihr habt euch also dazu entschieden tinus.one als Lifestyle-Produkt zu vermarkten. Wie genau kam es dazu?
SG: Ursprünglich war ich ein starker Befürworter davon, unser Produkt mit einem spezifischen medizinischen Zweck und für eine klinische Indikation als Medizinprodukt zu realisieren und auf den Markt zu bringen. Von diesem Plan sind wir aber schnell abgekommen, denn unser Produkt ist im Grunde eine Klang-basierte Einschlafhilfe und birgt kein Risiko für Nutzer:innen. Auch für ein Medizinprodukt der niedrigsten Risikoklasse, können klinische Daten zum Nutzennachweis nötig werden, um im Gesundheitssystem erstattet zu werden. Das Generieren solcher Daten in einer klinischen Studie kann ein langwieriger und teurer Prozess sein. Von den Testnutzer:innen kam immer wieder die Frage: Das Produkt funktioniert doch, warum braucht es denn die lange Wartezeit auf die Studienergebnisse? Des Weiteren ist es gerade als junges Unternehmen sehr aufwändig eine vollumfängliche klinische Evaluation durchzuführen und das nötige Geld sowie die Zeit dafür aufzubringen. Mein größtes Learning aus dem 4C Accelerator war es, die regulatorischen Anforderungen der MDR kennenzulernen und wann diese anzuwenden sind. Ich habe auch gelernt, wie langwierig es sein kann eine klinische Studie zum Nutzennachweis durchzuführen.
Unterm Strich haben wir aus dem Programm unglaublich viel für die Entwicklung unseres Geschäftsmodells mitgenommen. Zudem sind wir mittlerweile an einem Punkt, an dem die klinische Evidenz zum Nutzennachweis immer relevanter wird. Deshalb kramen wir gerade die Unterlagen wieder heraus, denn sie bieten noch immer einen großen Mehrwert für uns.
Welche Vor- und Nachteile bringt diese Strategie mit sich?
SG: Für die Kund:innen selbst hat das den Vorteil, dass tinus.one jetzt schon auf dem Markt erhältlich ist. Trotz der hochwertigen Qualität gibt es jedoch keine Zertifizierung als Medizinprodukt. Kund:innen müssen sich deshalb selbst von dem Produkt überzeugen und es ausprobieren. Die Erfahrungswerte unserer Testnutzer:innen sind aber durchweg positiv.
Für uns als Startup hat die Entscheidung, tinus.one nicht als Medizinprodukt zu zertifizieren, den Vorteil, dass wir wesentlich schneller und vor allem weiter in der Produktentwicklung sind. Wir können uns voll und ganz auf die Entwicklung eines hochwertigen und sicheren Produkts fokussieren, ohne dabei von Dritten abhängig zu sein. Auch bei der Fertigung auf eine zertifizierte Produktionsstätte angewiesen zu sein, hätte uns viel Lerneffekt vorenthalten und uns langsamer gemacht.
Auch ohne den Status eines Medizinprodukts betreiben wir Qualitätsmanagement, sodass wir ein hochwertiges Produkt sicherstellen können. Die Themen QMS und Technische Dokumentation wären in ihrem Umfang jedoch viel umfangreicher, hätten wir uns für den Schritt in die Medizinbranche entschieden. Denn jetzt sind wir in der Materialauswahl, zum Beispiel, viel freier.
Nachteile gibt es aber definitiv auch, vor allem im Marketing-Bereich. Wir arbeiten mit einigen Hörakustiker:innen zusammen, die unser Produkt vertreiben und empfehlen. Dabei kommt oft die Frage nach der Hilfsmittelverzeichnisnummer von tinus.one. Während andere Produkte, wie etwa Hörgeräte, diese Zertifizierung haben und von den Kassen bezuschusst werden, ist uns dieser Zuschuss versperrt.
Was würdest du Startups raten, die in einer ähnlichen Situation sind?
SG: Trotz der Nachteile sind wir von tinus durchweg zufrieden mit unserer Entscheidung. Andere Startups, dir vor einer ähnlichen Situation stehen, sollten aber vor allem drei Dinge beachten:
- Vorab muss die Zweckbestimmung und das potenzielle Risiko des Produkts für die Nutzer:innen gründlich geprüft werden. Nur wenn tatsächlich kein spezifischer medizinischer Zweck gemäß MDR Art. 2, 1 vorliegt und kein Risiko für die Nutzer:innen besteht, ist die Variante als Lifestyle-Produkt überhaupt möglich.
- Ist das geklärt, sollte die Entscheidung für ein Lifestyle-Produkt früh im Produktzyklus fallen. Denn dann kann man wahnsinnig Geschwindigkeit aufbauen. Entscheidet man sich spät um, hat man sehr viel Zusatz-Aufwand, der vom Ziel ablenkt.
- Zudem muss man eine klarer Botschaft nach außen senden. Was bin ich? Was ist dieses Produkt? Immer dazwischen zu sein, macht z.B. das Marketing deutlich schwieriger und man schießt womöglich an beiden Zielgruppen vorbei.
Wie wird es mit tinus weitergehen? Was steht als nächstes bei euch an?
SG: Aktuell sind wir dabei unseren Vertrieb zu skalieren und möglichst viele Vertriebspartner:innen zu akquirieren. Denn je mehr Leute tinus.one mal in der Hand hatten, umso mehr verbreitet sich die Innovation.
Auf der technischen Seite entwickeln wir immer mehr Software auf Basis des Produkts und der Schlaf-Daten. In Kürze soll eine App eingeführt werden, die am nächsten Tag das Sleep-Tracking anzeigt, ohne dass man eine Uhr oder Ähnliches während dem Schlaf tragen muss. Als weiteres Feature soll außerdem der Wecker über das Kissen klingeln und nicht am Smartphone, sodass meine Partnerin oder mein Partner nicht auch geweckt werden. Generell bietet uns die Kombination aus Sleep-Input und Klang-Output großes Potential für weitere Modelle. Dadurch können wir einen noch größeren Mehrwert für unsere Kund:innen schaffen.
Wie tinus stehen Startups in den medizinischen Life Sciences häufig vor der Frage, ob ihr Produkt gemäß der Medical Device Regulation tatsächlich ein Medizinprodukt ist oder nicht. Wir vom MII können euch dabei helfen, Klarheit darüber zu erhalten. Gemeinsam können wir eure Zweckbestimmung prüfen und diskutieren und die daraus resultierenden Konsequenzen besprechen, damit ihr die beste Strategie für euer Startup finden könnt.
Wann ist mein Produkt ein gemäß der MDR ein Medizinprodukt?
„Medizinprodukt“ bezeichnet ein Instrument, einen Apparat, ein Gerät, eine Software, ein Implantat, ein Reagenz, ein Material oder einen anderen Gegenstand, das dem Hersteller zufolge für Menschen bestimmt ist und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen medizinischen Zwecke erfüllen soll:
- Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten,
- Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung von oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen,
- Untersuchung, Ersatz oder Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands,
- Gewinnung von Informationen durch die In-vitro-Untersuchung von aus dem menschlichen Körper — auch aus Organ-, Blut- und Gewebespenden — stammenden Proben
und dessen bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, dessen Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann.
Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR), Art. 2, 1.